Eine Weihnachtsgeschichte
Weihnachten im Haus auf der Grenze
«Mama, wann feiern wir heute endlich?», quengelt die kleine Nora. «Hab noch ein kleines bisschen Geduld», antwortet ihr Hanna und streicht ihr über den Kopf. «Wir warten doch noch auf unsere Weihnachtsgäste Shmuel und Hassan. Die haben einen weiten Weg, doch in etwa einer halben Stunde sind sie da. Spiel noch ein wenig mit deiner Schwester Lea und deinem Cousin Pablo, ich helfe Yovana und Marc noch beim Kochen.» «Warum müssen wir denn immer auf fremde Gäste warten an Weihnachten! Und ich mag mit denen grad nicht spielen, die nehmen mir immer wieder die Bauklötze weg, wenn ich meine Brücke bauen will.» Hanna seufzt, sie hat jetzt keine Zeit, den kindlichen Streit zu schlichten. «Dann geh zu Oma und Opa in die Stube und leiste ihnen ein wenig Gesellschaft. Ich glaube, heute wird dir Opa die Geschichte erzählen, warum wir an Weihnachten immer Gäste haben.» Und so schlüpft Nora in die weihnächtlich geschmückte Stube und sitzt dem Grosi auf den Schoss. Gedankenverloren streicht ihr das Grosi über die Haare. Sie blickt leicht ins Leere und sagt: «Früher, ja früher, da war alles anders. Früher, . . Weisst du, die Lieder in der Schule, die haben wir gesungen. . . Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all, zur Krippe her kommet in Bethlehems Stall.» singt sie mit zittriger Stimme. Nora weiss, dass Omas Geschichten immer mit einem früher beginnen und dann irgendwie versickern. «Opa, du würdest mir heute die Geschichte erzählen, warum wir an Weihnachten immer Gäste haben.» «Genau, heute bist du alt genug, um es zu erfahren.» Erst jetzt bemerkt Nora ein altes, ledriges Notizbuch, das neben Opa auf dem Platz liegt. «Ist da die Geschichte drin?» «Ja.» «Von wem ist sie denn?» «Von meinem Grossvater, deinem Ururgrossvater, er hat sie da drin aufgeschrieben.» «Hat er sie erfunden wie du jeweils Weihnachtsgeschichten erfindest?» «Nein, sie ist wahr.» «Aber dann ist es doch gar keine richtige Geschichte, dann ist es wie beim Grosi, früher, da war alles anders, und dann hört es auf.» «Ja weisst du, es gibt solche und solche Geschichten, Nora. Manche Geschichten von früher erzählen uns wirklich etwas Besonderes. Diese Geschichte erzählt, warum unser Haus «Haus zur Grenze» heisst und warum wir immer eine Versöhnung feiern an Weihnachten»
Dann rückt er seine Brille zurecht und schlägt das Büchlein auf. «Nun lese ich dir vor, was er geschrieben hat:
Schon als Schüler ist sie mir aufgefallen, die schüchterne Elisabeth, mein Bethli. Sie ging in die andere Schule, die Evangelische, im andern Dorf. Ihre Zöpfe hingen lang über ihren Schulranzen, wenn sie an unserem Hof vorbeiging. Sie blickte nie auf. Und einmal tat ich als Schüler etwas ganz Dummes, weil ich wollte, dass sie mich bemerke. Ich stellte ihr schnell ein Bein, als sie vorbeiging. Sie stolperte, und dann blickte sie mich so wütend an, dass ich ganz rot wurde vor Scham. Ich stammelte etwas und wischte ungeschickt den Dreck von ihrem Rock, doch sie rannte davon. Später habe ich ihr dann als Entschuldigung einen Blumenstrauss gepflückt, und als sie dann lächelte, ging für mich die Sonne auf. Als ich bereits in der Lehre war, trafen wir uns beim Tanz. Wir waren eigentlich ja beide schüchtern. Doch nachdem ich meinen ganzen Mut zusammennahm und sie zum Tanz aufforderte, und sie ja sagte, da schwebte ich im siebten Himmel. Doch nicht lang. Unsere Familien erfuhren bald davon, und dann war die Hölle los. Meine Mutter sagte mir: «Eine reformierte Schwiegertochter kommt mir nicht ins Haus.» Und ihr Vater verpasste meiner Elisabeth sogar eine Ohrfeige. Zum Glück fanden wir beide jemanden, der uns half. Mein jüngerer Bruder Hans und ihre ältere Schwester Lina schmuggelten die Briefchen, die wir einander schrieben, hin und her. Sie musste dann ein Jahr ins Welsche, und ich ins Militär. Doch wir vergassen einander nicht. Wir trafen uns nach dieser Zeit heimlich im Nachbardorf. Wir wussten beide, wenn wir uns füreinander entscheiden würden, dann würde dies den Bruch mit unseren Familien bedeuten. Sollten wir wegziehen? Oder aufeinander verzichten und ledig bleiben? Freunde von uns haben sich für diesen Weg entschieden und sie blieben tatsächlich ihr Leben lang ledig. Da erwachte in mir ein trotziger Mut und in ihr auch. Wir wollten zueinander stehen. Und so sparten wir beide, einige Jahre lang und versteckten unsere Liebe. Und dann war es so weit. Ich nahm meinen Sonntagsanzug, sie erwartete mich bereits am Weg unten, ebenfalls in ihrem besten Kleid. Ich klopfte bei ihrer Familie an die Tür, und wir eröffneten ihnen, dass wir bald heiraten würden. Ganz rot wurde ihr Vater vor Zorn. Niemals würde er dies zulassen. Du kannst mich nicht hindern, sagte meine Elisabeth, ich habe mich entschieden. «Dann bist du nicht mehr meine Tochter», sagte er hart. Auch wenn wir erwartet hatten, dass es schwierig würde, so brach sie doch in Tränen aus und ich schluckte schwer. Wir gingen weiter zu meiner Familie. Da war es nicht viel besser. Meine Mutter sagte: «Wenn du diese unbedingt heiraten willst, kann ich dich nicht hindern. Aber ich habe sie heute zum ersten und letzten Mal ins Haus gelassen.» Wir heirateten erst nur auf dem Standesamt, denn wir hatten grad genug von unseren Kirchen. Doch wegziehen wollten wir beide nicht. Und so bauten wir vom ersparten Geld unser Haus auf der Grenze. Auf der Grenze zwischen dem reformierten und katholischen Dorf. Mitten durch unser Haus ging sie. Es sollte wie ein Zeichen sein, eine Brücke. Doch es war hart. Von beiden Seiten, nicht nur von unseren Familien, erfuhren wir Feindschaft und Ablehnung. Zum Glück hatte es auch Menschen, die zu uns standen und sogar unsere Liebe bewunderten. Und die hatten wir, wir hatten einander. Und das machte uns zunächst einfach nur glücklich. Unsere Kinder kamen auf die Welt, zwei liessen wir reformiert, zwei katholisch taufen. Doch unsere Eltern blieben unversöhnlich. Und ich glaube, das machte mein Bethli krank. Sie litt mehr darunter als ich. Selbst als sie schwer darniederlag, kam ihr Vater sie nie besuchen. Doch ihre Mutter schlich sich heimlich vom Hof fort. Sie hätte sich schon lange gerne versöhnt, doch gegen ihren Mann kam sie nicht an. Viele Tränen flossen. Man wäre ja eigentlich so nahe gewesen und hatte viele Jahre kein Wort miteinander gesprochen. Es waren Tränen der Reue und Versöhnung. Doch leider wurde mein Bethli nicht mehr gesund. An der Beerdigung kamen ausser Bethlis Vater alle. Kurze Zeit später hatte er einen Herzinfarkt. Es hatte ihm wohl doch zugesetzt.
Aber mich hat es bitter gemacht. Und als ich eines Abends mitten im Advent in der Stube sass, geschüttelt vor Schmerz und Trauer, da schrie ich: «Herrgott, wenn es dich überhaupt gibt, dann nimm mich auch zu dir. Ich will sein, wo mein Bethli ist. Zwei meiner Kinder sind erwachsen, die anderen würde meine Schwester bestimmt zu sich nehmen.» Und so schlief ich ein in meiner Verzweiflung und meinem Schmerz. Und ich träumte: Ich sah mein Bethli, mein Herz wollte zerspringen vor Sehnsucht. Es sah wieder aus wie als junges Mädchen. Im Arm hielt es ein Kind. Ich wusste plötzlich, dass dies das Jesuskind ist. Sie lächelte mich an, so strahlend, und sagte mir: «Ich werde dich immer lieben, Sepp. Ich warte hier auf dich. Du siehst, ich bin glücklich. Sei du es auch. Bald ist Weihnachten. Versöhne dich mit deiner Familie. Ich weiss, von diesem Haus an der Grenze wird viel Segen ausgehen. Menschen werden aus- und eingehen, die sonst nichts miteinander zu tun haben.» Und als ich erwachte, da brannte die Adventskerze immer noch, und ich wusste nicht so recht, ob mir geträumt hatte oder nicht.
Doch ich überwand mich, versöhnte mich tatsächlich mit meiner Familie, mit Bethlis Mutter hatte ich es ja schon getan, zum ersten Mal feierten wir Weihnachten hier im Haus zur Grenze zusammen. Die Bitterkeit verschwand. Seither machte ich es zur Tradition. Immer an Weihnachten lud ich zu einem Versöhnungsfest ein. Nicht nur in der Familie, auch in den beiden Dörfern. Wenn irgendwo Streit war, lud ich die beiden Parteien ein. Und sie kamen tatsächlich, sie begannen, miteinander zu reden. Und es war mir, als wäre Bethli auch da und würde dazu beitragen, dass Friede würde, zusammen mit dem Jesuskind.»
Der Grossvater klappt sein Buch zu und blickt zur gebannt lauschenden Nora und fährt fort:
«So tun wir das bis heute, Nora. Immer an Weihnachten laden wir Menschen ein. Viele sind schon aus- und eingegangen bei uns. Linke und Rechte, Fromme und Atheisten, Gesunde und Kranke, Ausländer und Schweizer, Flüchtlinge und CEO’s, Alte und Junge, Städter und Dörfler, Queere und Heteros, Schwarze und Weisse, Polizisten und ehemalige Verbrecher, usw. Und heute warten wir auf Shmuel und Hassan. Shmuel ist Israeli, Hassan Palästinenser. Shmuels jüngere Schwester starb bei einem Terroranschlag, Hassans Sohn kam bei einem Angriff der Israeli ums Leben. Beide versuchen sie, den Krieg zu überwinden, Brücken zu bauen. Wir haben sie eingeladen, damit sie Brücken zueinander bauen können.»
Die Düfte der mexikanischen Lammkeule mit Koriander durchziehen nun das ganze Haus, als es an der Türe klingelt und die beiden erwarteten Männer kurz nacheinander eintreffen und einen Schwall kalte Luft in die Stube bringen. Zuerst soll gegessen und gefeiert werden, bevor es um Versöhnung geht.
Und als sie sich später gegenübersitzen und um Worte ringen, bringt Nora zum Erstaunen aller ihre Bauklötze. Sie sagt zu Shmuel und Hassan: «Ich wollte heute eine Brücke bauen, aber Pablo und Lea haben mich geärgert und nahmen mir die Klötze weg. Jetzt schenke ich sie euch, denn vielleicht könnt ihr zusammen eine Brücke bauen.» Da erscheint das erste Lächeln auf den beiden Gesichtern, und es ist fast, als wäre Bethli mit ihrem Jesuskind immer noch da.
Pfrn. Annette Spitzenberg